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noch heftiger und konnte nur hervorbringen: »Mama!
Mama! Mama!« Der Vater des kleinen Mädchens
verlangte den alliierten Kommandanten zu sprechen.
Der empfing ihn, hob sein hageres Gesicht mit dem
karottenfarbenen Lippenbärtchen und hieb dabei
mit einer Reitgerte durch die Luft: »Sie sind einer von
diesen sogenannten Volksvertretern?« Der Vater des
kleinen Mädchens sagte ja. »Dann teile ich Ihnen mit,
daß Ihr Volk uns mit Diebstahl empfangen hat. Dieser
Mann hat gestohlen.« Der Vater des kleinen Mädchens
fragte, was er denn gestohlen habe. »Einen Brotbeutel
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mit Verpflegung und Dokumenten«, pfiff die Gerte. Der
Vater des kleinen Mädchens fragte, was für Dokumente.
»Die Entlassungspapiere des Unteroffiziers, dem der
Brotbeutel gehört«, pfi
ff die Gerte. Der Vater des kleinen
Mädchens fragte, ob man die Papiere wiedergefunden
habe. »Ja, aber zerfetzt!« pfiff die Gerte. Der Vater des
kleinen Mädchens meinte, man könnte sie vielleicht
wieder zusammenkleben. Und die Verpflegung? Hat
man auch die wiedergefunden? »Die Verpflegung
war gegessen! Verpflegung für einen ganzen Tag!«
schrie die wahnsinnig gewordene Gerte. Der Vater des
kleinen Mädchens hätte fast gelächelt. Er sagte, dies
sei gewiß bedauerlich: als Volksvertreter würde er den
Dieb in Gewahrsam nehmen und beantragen, den
Unteroffizier mit den Reparationen zu entschädigen.
Da beschrieb die Gerte einen großen Bogen in der Luft
und erwiderte, beim englischen Heer würden Diebe
erschossen; und den Volksvertreter betreffend: hinaus!
Draußen schluchzte der Dieb immer noch im Gras:
»Mama! Mama! Mama!« Der Engel in Uniform stand
immer noch über ihm mit gespreizten Beinen und mit
der Maschinenpistole. Die Beine waren stämmig und
behaart, die Maschinenpistole war auf den Nacken
des Mannes gerichtet. Das kleine Mädchen hörte im
Vorbeigehen ein metallisches Knacken. Das Knacken,
wenn entsichert wird.
Das kleine Mädchen erfuhr niemals, ob man den
Dieb hingerichtet hatte. Aber von dem Tag an mißtraute
es dem Wort Morgen. Und da es in seinem Kopf das
Wort Morgen mit dem Wort Freunde assoziiert hatte,
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mißtraute es von dem Tag an auch den Freunden. Nach
dem englischen Heer kam das amerikanische Heer.
Alle sagten sie, die Amerikaner wären herzlicher und
gutmütiger, und das kleine Mädchen ho e dies sehr,
da viele von ihnen ein volles, menschliches Lachen
hatten. Aber es merkte bald, daß auch sie mit ihrem
vollen menschlichen Lachen vergewaltigten und
korrumpierten und sich als Herren gebärdeten: das
Morgen war eine neue Angst. Doch der Hunger war
immer derselbe. Um ihn zu befriedigen, prostituierten
sich einige Frauen, andere wuschen die Wäsche
dieser neuen Herren. Jede Terrasse, jeder Hof war ein
Schaukeln von Uniformen, Socken, Unterhemden;
ein Zurschaustellen, wer mehr Wäsche wusch. Sechs
Paar Socken ein Kastenbrot. Drei Unterhemden eine
Dose Fleisch mit Bohnen. Eine Uniform zwei Dosen
Fleisch. Der Vater des kleinen Mädchens erlaubte
nicht, daß seine Frau und seine Tochter diese dreckige
Wäsche anrührten. Er sagte, das Morgen habe gut
oder schlecht begonnen und man müsse es mit Würde
verteidigen. Um den Beweis dafür zu erbringen, lud
er die »Freunde« zum Essen ein und gab ihnen seine
Ration an frischen Lebensmitteln. Eines Abends gab
er ihnen sogar seine goldene Uhr und hielt dazu eine
schöne Ansprache, erinnerte an die Gefangenen, denen
man wegen des Morgen geholfen hatte, das weiterhin
ein gemeinsames Ziel bleibe. Die Freunde nahmen
die goldene Uhr und boten als Gegengabe Wäsche
zum Waschen an. Das kleine Mädchen war gekränkt.
Aber der Hunger ist eine Bestie voller Versuchung:
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nur wenige Tage danach änderte es seine Meinung
und erbat sich hinter dem Rücken des Vaters Wäsche
zum Waschen. Zwei Säcke trafen ein. Der eine enthielt
schmutzige Sachen, der andere Nahrungsmittel. Der
eine mit den Nahrungsmitteln wurde gleich aufgemacht
und geleert; er enthielt drei Dosen Bohnen mit Soße,
zwei Kastenbrote, ein Büchschen Haselnüsse und eine
ganze Packung Erdbeereis. Der mit der Schmutzwäsche
wurde später aufgemacht. Als das kleine Mädchen ihn
in den Waschzuber entleerte, errötete es vor Zorn. Es
waren ausnahmslos dreckige Unterhosen.
Beim Waschen der schmutzigen Unterhosen anderer
Leute wurde es mir klar: unser Morgen war nicht ge-
kommen und würde vielleicht auch niemals kommen.
Man würde uns immerfort mit Versprechungen an der
Nase herumführen: ein Rosenkranz von Enttäuschun-
gen, gemildert durch falsche Tröstungen, erbärmliche
Geschenke, jämmerlichen Komfort, damit wir uns ruhig
verhalten. Wird für dich das Morgen jemals kommen?
Ich bezweifle es. Seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden
setzen die Menschen Kinder in die Welt im Vertrauen
darauf, daß es ihnen morgen bessergehen wird als ih-
ren Eltern. Und dieses Besser ist dann im günstigsten
Fall die jämmerliche Errungenschaft einer Zentralhei-
zung. Bitte, die Zentralheizung ist schon eine großar-
tige Sache, wenn einen friert: aber sie gibt dir wahrlich
nicht das Glück und beschützt keinesfalls deine Wür-
de. Auch mit Zentralheizung wirst du weiterhin Mut-
willen, Widerwärtigkeiten und Erpressungen ausgesetzt
sein, und das Morgen bleibt Lüge. Ich sagte dir am An-
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fang, daß nichts schlimmer ist als das Nichts, daß der
Schmerz einen nicht erschrecken darf, ja, nicht einmal
das Sterben, denn wenn man stirbt, so heißt das, daß
man geboren wurde; ich sagte dir auch, daß es sich
immer lohnt, geboren zu werden, denn die Alternative
ist Leere und Schweigen. Aber ist das richtig gewesen,
Kind? Ist es richtig, daß du geboren wirst, um dann
durch eine Bombe oder durch das Gewehr eines be-
haarten Unteroffiziers umzukommen, dem du aus Hun-
ger seine Tagesverpflegung gestohlen hast? Je mehr du
wächst, um so mehr erschrecke ich. Die Begeisterung,
die mich anfangs bewegt hatte, die herrliche Gewißheit,
das wirklich Wahre erkannt zu haben, sie sind fast rest-
los verschwunden. Der Zweifel zehrt immer mehr an
mir. Dieser Zweifel, der heimtückisch wächst und wie-
der zusammenfällt wie die Gezeiten, jetzt das Gestade
deiner Existenz mit Sturzwellen überfällt, dann beim
Zurückfluten Strandgut zurückläßt. Ich will dir nicht
den Mut nehmen, glaub mir, und dir nicht einreden,
daß du nicht auf die Welt kommen sollst: ich will nur
meine Verantwortung mit dir teilen und dir deine ei-
gene begreifl
ich machen. Noch hast du Zeit, es dir zu
überlegen, Kind, ja, es dir anders zu überlegen. Was
mich selbst angeht, so bin ich trotz des Auf und Ab be-
reit. Aber du? Ich fragte dich schon einmal, ob du bereit
bist zuzusehen, wie eine Frau auf eine Magnolie gewor-
fen wird, wie jemand mit Schokolade überschüttet wird,
der sie gar nicht braucht. Jetzt frage ich dich, ob du be-
reit bist, die Gefahr auf dich zu nehmen, anderer Leu-
te Unterhosen zu waschen und die Entdeckung zu ma-
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chen, daß das Morgen ein Gestern ist. Du, der du dich
dort befindest, wo jedes Gestern ein Morgen und jedes
Morgen eine Errungenschaft ist. Der du die übelste al-
ler Wahrheiten noch gar nicht kennst: die Welt ändert
sich und bleibt wie zuvor.
Zehn Wochen. Du wächst mit beeindruckender Schnel-
ligkeit heran. Vor vierzehn Tagen warst du noch keine
drei Zentimeter groß und keine vier Gramm schwer.
Heute bist du sechs Zentimeter groß und wiegst acht
Gramm. Du bist schon ganz da. Vom ehemaligen Fisch-
lein ist nur noch soviel zurückgeblieben, daß du mit den
Lungen Wasser aufnimmst und wieder ausstößt. Dein
menschliches Skelett hat sich herausgebildet, mit Kno-
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